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Entnetzung – während alle alles vernetzen. Über ein ungewöhnliches Forschungsprojekt

04.05.2020 Zoom-Meetings, digitales Arbeiten, Telefonate mit Vorgesetzten, Familie, Freund*innen: Die Corona-Pandemie rückt digitale Kommunikation überall ins Zentrum. Soziologin Clara Wieghorst vom Center for Digital Cultures argumentiert, dass wir dennoch gerade Entnetzung erleben, da diese nicht zwangsläufig eine Abkehr von digitalen Medien bedeutet.

Wie fragil die vernetzte Gesellschaft ist, wird während der Corona-Pandemie ganz explizit deutlich. „Die unkontrollierbare Ausbreitung eines Virus ist auch damit zu erklären, dass wir in einer globalisierten und stetig vernetzten Welt leben“, sagt Wieghorst. 

Das DFG-Projekt „Entnetzung. Imaginäre, Medientechnologien, Politiken“ behandelt kulturwissenschaftlich und soziologisch das Phänomen der Entnetzung. Dabei werden einerseits Praktiken und Infrastrukturen des Entnetzens untersucht, andererseits die Imaginäre der Entnetzung – also die Vorstellungen, die diese Praktiken prägen, wie zum Beispiel die Idee, man müsse digitale Medien bewusster nutzen. Die Euphorie des emanzipatorischen Versprechens, die in den neunziger Jahren die Ausbreitung des Internets begleitete, ist in den letzten Jahren abgeebbt. Kritische Stimmen zur digitalen Vernetzung, die Probleme wie Überwachung, Erschöpfung und Cybermobbing in den Fokus rücken, werden immer lauter. Damit sind eine ganze Reihe von Imaginationen und Praktiken der Entnetzung entstanden.

So gibt es jetzt beispielsweise Digital-Detox-Tourismus, der dazu anleiten soll, sich von der digitalen Vernetzung zu distanzieren und die „wahre“, soziale Vernetzung zu erleben. „Das ist ein häufiges Bild in Diskursen um Entnetzung, es wird eine Zweiteilung zwischen dem ‚guten‘ Offline-Kontakt und der ‚schlechten‘ digitalen Verbindung aufgemacht“, erklärt Wieghorst. 

Während der Corona-Pandemie findet Entnetzung weniger online als vielmehr in physischer Kommunikation statt – Social Distancing ist eine Form davon. „Distanz ist auch in anderen Kontexten eine wichtige Praktik, zum Beispiel wenn man in einer Großstadt lebt. Wenn wir U-Bahn fahren, können wir uns nicht mit allen Menschen verbinden, Distanz zu halten ist dann ein wichtiges Moment des sozialen Miteinanders“, fasst Wieghorst eine These des soziologischen Klassikers Georg Simmel zusammen. Projektleiter Urs Stäheli plädiert dafür, solche Momente der Distanznahme verstärkt in das Denken von Gesellschaft miteinzubeziehen. Aber auch in Bezug auf digitale Medien finden während der Coronakrise Praktiken der Entnetzung statt – beispielsweise durch den bewussteren Nicht-Konsum von Nachrichten und Livetickern. Hierbei handelt es sich um eine individuelle Entnetzungspraktik von Menschen, die sich erschöpft und überfordert fühlen. Social Distancing kann hingegen als kollektive Entnetzungstrategie verstanden werden, die dazu dient, die vernetzte Gesellschaft zu regenerieren, die durch das Virus bedroht ist. Insofern ist Entnetzung nicht das Gegenteil von Vernetzung, sondern sie findet innerhalb letzterer statt.

Das Projekt „Entnetzung. Imaginäre, Medientechnologien, Politiken“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und findet als Kooperation zwischen Leuphana und Universität Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Timon Beyes und Prof. Dr. Urs Stäheli statt.